Stress, „Work-Life-Balance“ (die innere Balance), abschalten, ausgepowert fühlen, sind vermehrt Themen, weshalb Menschen zu mir ins Coaching kommen. Durch Zufall ist mir mal wieder das Märchenbuch MOMO in die Hände gefallen und ich habe es zum zweiten Mal gelesen. Es geht um Zeitdiebe, den zerstörenden Effekt und um ein kleines Mädchen, dass diesen Zeitdieben das Handwerk legt. Den Menschen wird dadurch nicht nur ihre gestohlene Lebenszeit zurückgegeben, sondern auch ihr vorheriges Glücklichsein.
Nehmen Sie sich die Zeit – falls Sie sie haben(?!) – und lassen Sie sich in diese Geschichte mit meinen Denkanstößen entführen. Vielleicht kommt Ihnen ja Vieles bekannt und Einiges unbekannt vor.
Bei der Heldin in diesem Buch handelt es sich um ein kleines Mädchen, dass von irgendwo oder nirgendwo herkam und in einer alten Theaterruine einer Stadt lebte. Sie war klein und mager. Man konnte ihr Alter nicht schätzen – war sie acht Jahre oder doch schon zwölf Jahre alt. Ihre äußere Erscheinung war in der Tat etwas seltsam. Sie lief fast immer barfuß herum und trug einen Rock, der aus alten Flicken zusammengenäht war. Darüber eine viel zu große Männerjacke. Momo besaß nichts und trug deshalb Sachen, die sie irgendwo fand oder geschenkt bekam.
Schnell gewann sie durch ihre offene und liebenswerte Art das Vertrauen der Stadtbewohner. Sie hieß alle willkommen, Jung und Alt, egal ob arm oder reich, ob Klassenbester oder nicht, ob korrekt und ordentlich gekleidet, oder in Lumpen. Viele kamen zu Momo um sich auszuweinen, oder nur um zu plaudern. Bei Unklarheiten, offenen Fragen, Streitigkeiten, oder Unglücklichsein rieten die Menschen „Geh doch zu Momo!“ Denn Momo konnte sehr gut zuhören.
„Und zwar so, dass jeder, der ihr etwas erzählt, spürt, wie in ihm ein herrliches Gefühl wächst – das Gefühl, ein ganz besonderer und wichtiger Mensch zu sein.“
Momo hatte zudem viel Zeit und nahm sie sich zum Zuhören.
Dann kam die Gesellschaft „grauer Herren“, die einen Schatten über die Stadt legten, dunkel und kalt. Niemand wehrte sich dagegen, weil sie sich einschlichen, ohne dass man sie recht bemerkte. Sie waren da und doch nicht da. Die „grauen Herren“ eroberten die Gegend lautlos und unmerklich. Sie verströmten eine unheimliche, gespenstische Kälte. Sie veranlassen immer mehr Menschen, Zeit zu sparen. Die grauen Herren kannten den genauen Wert einer Sekunde, einer Minute oder einer Stunde eines Lebens sehr gut.
Der Friseur der Stadt wollte sich eigentlich mal was Schönes im Leben gönnen, doch nach seiner Meinung benötige man für das richtige Leben eben Zeit. Und die lässt ihm seine Arbeit nicht zu. Eines Tages erschien einer der „grauen Herren“ bei ihm im Laden und rechnete ihm vor, wie viele Sekunden seines Lebens er schon verbraucht habe und wie viele noch bleiben. Er könne aber jetzt mit dem Zeitsparen anfangen und auf der sogenannten Zeit-Spar-Kasse ein Zeitkonto einrichten, auf Dir er eingesparte Zeit ansparen könne. Die Zeit-Spar-Kasse gibt dann noch etwas dazu. Das leuchtete dem Friseur ein. Und er fing sofort mit dem Zeitsparen an. Beim nächsten Kunden ließ er alles Überflüssige weg, war kurz angebunden, denn Zeit ist ja wie Geld, das man sparen kann. Statt 30 Minuten benötigte er nur 20. So behandelte er ab jetzt jeden Kunden. Mittlerweile konnte der Friseur Mitarbeiter einstellen und an einem Tag mehr Kunden bedienen. Seine Arbeit bereitete ihm auf diese Weise überhaupt keinen Spaß mehr, aber das war ja jetzt auch nicht mehr wichtig, denn Hauptsache sein Einkommen erhöhte sich stetig. Sein Motto lautete „gesparte Zeit ist doppelte Zeit.“ Manche sagen auch „Zeit ist Geld“.
Doch spätestens seit Albert Einstein wissen wir, dass das Zeitempfinden abhängig vom Tun des Betrachters und somit relativ ist. Er soll gesagt haben: «Wenn man zwei Stunden lang mit einem netten Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch für eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.»
Klar, Momo ist „nur“ ein Märchen. Dennoch möchte ich gerne in diesem Beitrag mal unsere „Zeit“ im realen Dasein beleuchten. Haben Sie sich schon mal gefragt, wie Sie Ihre Zeit verwenden? In was investieren Sie sie und wo und für was sparen Sie sie? Wie oft rutscht uns der Satz heraus „ich habe leider keine Zeit“? Keine Zeit mich mit Freunden zu treffen, keine Zeit zum kurzen Schwatz an der Kaffeemaschine, keine Zeit mich mit Kollegen und Kolleginnen auszutauschen, keine Zeit zum Sport machen…usw….usw…. Neben dem relativen Empfinden von Zeit, gibt es natürlich auch numerische Fakten. 1 Tag besteht aus 24 Stunden, 1 Stunde aus 60 Minuten, 1 Minute aus 60 Sekunden….Faktisch keine Zeit zu haben, geht gar nicht. Keine Zeit würde bedeuten, dass ich Zeit eliminiere, ausradiere, oder wie im Märchen MOMO gestohlen bekomme. Eine Minute würde dann, statt aus 60 Sekunden, nur noch aus 0 Sekunden bestehen, also nicht mehr existieren. So betrachtet, ist „keine Zeit haben“, wohl eher eine Frage der Priorisierung unserer vorhandenen Zeit. Wir teilen sie ein in wichtig / unwichtig, mache ich gern / mache ich ungern, oder muss ich tun.
Alles ist schnelllebiger geworden, heißt es. Wir leben schneller? Sozusagen auf der Überholspur? Es ist schon zur Selbstverständigkeit geworden, dass wir schneller getaktet sind. Wäre es nicht sinnvoll, diese Selbstverständlichkeit mal zu hinterfragen? Klar, kommen wir jetzt schneller von A nach B, als das vor fünfzig Jahren der Fall war. Auch die Nachrichtenübermittlung ist digital und dadurch schneller geworden. Über Handy überall und immer erreichbar zu sein, wird bei vielen schon vorausgesetzt. Viele fühlen sich als Getriebene unserer Zeit. Wie fühlen wir uns damit?
Zurück zum Märchen. Auch privat hatte der Friseur keine Zeit mehr für liebgewonnene Gewohnheiten. «Er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam: Von all der Zeit, die er einsparte, blieb ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte Weise und war nicht mehr da. Seine Tage wurden erst unmerklich, dann aber deutlich spürbar kürzer und kürzer» (Momo, Seite 69). Wie dem Friseur erging es vielen Menschen in dieser Stadt. Das Zeit-sparen nahm überhand. Zwar verdienten die Zeitsparer mehr Geld und konnten auch mehr für schöne Kleidung oder andere schöne Dinge ausgeben, aber ihre Gesichter wurden immer missmutiger, unfreundlicher, müde und verbitterter. Selbst in ihrer freien Zeit mussten sie sich in aller Eile vergnügen und entspannen. Träumen galt schon fast als ein Verbrechen.
Viele meiner Klienten/Klientinnen berichten, dass sie die Arbeit mit nach Hause nehmen, nicht mehr abschalten können und gestresst sind. Die notwendige Abgrenzung zwischen beruflichem und privatem Umfeld fehlt. Unzufriedenheit, Unglücklichsein, Bitterkeit, Gereiztheit nehmen auch im privaten Umfeld immer mehr zu. Krise in der Ehe oder Freundschaft sind oft Folgeerscheinungen. Getriebene unserer Zeit. Aber wer treibt uns denn ständig? Beim Abendessen, zwischen zwei Bissen, werden noch die letzten E-Mails im Handy gelesen. Es könnte ja sein, dass ein Kunde sich gemeldet hat und dringend ein Angebot für ein Produkt benötigt. Oder der Chef/die Chefin möchte noch Änderungen in der Planung für das wichtige Projekt, das Ende der Woche besprochen wird. Also, ist es in diesem Fall der Kunde oder unser Chef/unsere Chefin, die uns auch in der Freizeit mit geschäftlichen Anliegen treiben? Unsere private Zeit rauben? Oder sind wir das selbst, die genau das zulassen?
«Aber Zeit ist Leben. – heißt es im Märchen MOMO – Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie» (Momo, Seite 72). Andere Menschen, wie Momo und ihre Freunde Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer, die Zeit und Muße hatten, miteinander sich auszutauschen, oder auch nur mal still nebeneinander den eigenen Gedanken nachzugehen, wurden als Tage(Zeit)diebe beschimpft. Alles musste jetzt schneller gehen, worunter die Qualität der Arbeit litt und die Menschen immer unzufriedener mit ihrem Tun wurden. «…Irgendwann, wenn ich genug verdient hab‘, häng‘ ich meinen Beruf an den Nagel und mach‘ was anderes», sagte der Maurer der Stadt, der früher stolz auf seine Arbeit war und sie tagtäglich gerne gemacht hatte (Momo, Seite 82).
Momo hatte das Wesen der grauen Herren enttarnt und deren Absicht, Zeit zu stehlen, sowie die Gier der Menschen nach mehr Geld zu wecken, erkannt. Momo lernte den Meister der Zeit (Meister Secundus Minutius Hora). Hora ist der Verwalter und Hüter der Zeit. Er teilt allen Menschen ihre Lebenszeit zu. Wie sie ihre Lebenszeit nutzen, kann er allerdings nicht beeinflussen. Momo ist dort, wo die Zeit herkommt. Von Hora lernt sie, dass die grauen Herren nur entstehen können, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit gewähren, entstehen zu können.
Und selbst wenn man den Zeitdiebstahl bemerkt, strampelt man in seinem Hamsterrad weiter. Unaufhörlich, schneller und noch schneller, von einem Termin zum nächsten hetzend, denn man ist der Überzeugung, dass es in der heutigen Zeit normal ist und man das gefälligst zu tun hat, um erfolgreich zu sein. Die grauen Herren erpressen ihre Opfer, um noch mehr Zeit von ihnen stehlen zu können. Die Opfer lassen sich darauf ein, weil es ihnen dann vermeintlich besser gehen wird. Waren sie willig, vergrößerte sich ihr Einkommen und ihre Lebensbedingungen. Aber auf der Strecke bleibt der Spaß, die Freude an ihrer Tätigkeit, der Einfallsreichtum, Ideen und die Kreativität. „Keine Zeit mehr für…!“ Der Alltag wird genauso grau wie das Aussehen ihrer Bestimmer, der grauen Herren.
Unsere Wahrnehmung ist bereits selektiv und Multitasking nur ein Traum, aber Hektik und Stress grenzen unsere Wahrnehmung noch stärker ein als sie sowieso schon ist. Unser Hirn schaltet auf Notfallmodus. In diesem Zustand leidet nicht nur massiv unsere Kreativität, unsere Ideenvielfalt, sondern auf Dauer auch unsere Gesundheit (siehe auch meinen Blog Beitrag über mentale Gesundheit). Weniger ist oft mehr! Viele setzen ihre Arbeitszeit gleich mit Arbeitsleistung. Also, je länger ich am Tag arbeite, desto mehr leiste ich für mein Unternehmen. Klar, kann es auch mal Überstunden geben. Das sollte aber kein Dauerzustand werden. Und nicht ein Online Meeting dem nächsten folgen. Denn jeder Unternehmer / jede Unternehmerin sollte auf einen nachhaltigen Umgang mit der Ressource Mensch als Mitarbeiter/ Mitarbeiterin achten.
Als Momo von ihrer Reise bei Meister Hora zurückkam, musste sie schmerzlich feststellen, dass sich ihre liebsten Freunde auch dem Zeitsparen unterworfen hatten. Ninos kleines, gemütliches Lokal hatte sich in ein Schnellrestaurant gewandelt. Es gab nur noch Stehtische ohne Stühle. Heftiges Gedränge und Geschimpfe, wenn es an der Kasse etwas länger dauert. Einfach schnell den Hunger befriedigen, hastig einige Happen verschlingen und dann wieder zur Arbeit.
Ist es nicht so, dass wir viele angenehme und schöne Dinge in unserem Umfeld wegen der Hast, in der wir uns befinden, gar nicht mehr wahrnehmen können? Den Augenblick genießen können, gibt uns „gestohlene“ Zeit wieder zurück. Auch privat jagt häufig ein Termin den nächsten, ohne Rast und Pause dazwischen. Momo gelang es schließlich, das Heer der „grauen Herren“ zu besiegen und die geraubte Zeit aller Menschen zu befreien. Sämtliche Lebenszeit, die von den Menschen geraubt wurde, kehrte zu den Eigentümern zurück. «Die heillose Welt ist heilbar.» Ende gut – alles gut. Wie eben Märchen so enden. Aber wie sieht es bei uns aus? Sind auch wir heilbar? Kreative Lösungen, Strategien entwickeln geschieht nicht auf Knopfdruck wie am Fließband, sondern benötigt einen aufgelockerten Geist und einen gesunden Körper. Thematisieren Sie das Zeit-Getrieben-Sein mit Ihren Vorgesetzten, Mitarbeitenden, im Team und auch im privaten Umfeld. Das ist der erste Schritt, um adäquate Lösungen gegen den „Zeitdiebstahl“ finden zu können.
Nutzen Sie deshalb die Zeit jetzt,
Nehmen Sie sich ruhig die Zeit und lassen Sie uns darüber reden!